Zum vierten Mal waren wir in Norderstedt zu Gast. Bereits 2013, 2015 und 2018 hatten wir das Vergnügen, die riesige Moorbekhalle zu erleben.
Als Sportler aus einer kleinen, baufälligen und bald für umfangreiche Umbaumaßnahmen geschlossenen Turnhalle, deren Maße nicht größer sind als der Moorbek-Hallenteil, den man für die Jury-Einweisung genutzt hat, werden wir immer ein wenig wehmütig, wenn wir solche Objekte sehen.

Aber wir wollen nicht ungerecht sein: Wir lieben unser kleines Garser „Wohnzimmer“, in dem wir schon so viel Zeit verbracht haben in den letzten 15 Jahren.

Mit Norderstedt verbinden uns gute Erinnerungen: an die EVD-Deutschen in den Jahren 2013 und 2018 und an die WM-Quali 2015. (In diesem Zusammenhang einen herzlichen Gruß an Kirsten Häusler, falls du den Blog liest).
Und eine weitere eindrückliche Erinnerung sind die dicken Schneegestöber, durch die wir noch nach jeder Meisterschaft aus dieser Stadt nördlich von Hamburg die vielen hundert Kilometer einmal quer durch die Republik nach Hause gefahren sind.

Norderstedt – das bedeutete bisher stets Schnee, Kälte und Frühwinter auf Straßen, Wegen und der Autobahn.

Als wir hörten, wer der Ausrichter der DM 2024 sein wird, sahen wir Szenarien vor uns, wie die Scheibenwischer über Stunden hinweg zwischen Hamburg und München versucht hatten, die weiße Masse aus dem Sichtfeld zu räumen und wie wir im Schneckentempo gen Süden gekrochen sind. In so manchem nachfolgenden Winter kam dann nicht mehr viel dieser weißen Pracht vom Himmel und wir „genossen“ die größte Jahresschneemenge bereits auf den über 800 Kilometern zwischen der Auffahrt auf die A7 bei Hamburg und der Abfahrt von der A94 bei München.

Diesmal kein Schnee auf den Straßen, dafür die gewohnt kalte Halle. Zum Glück sind vor der Anreise noch Erinnerungen aufgekommen, wie wir bei den anderen drei Meisterschaften stets gebibbert hatten, und so kamen wir diesmal gut präpariert und warm eingepackt in den Norden.

Zuweilen aber war es nicht nur die kalte Luft in der Halle, die uns frösteln ließ. Das Gefühl kam auch von der unterkühlten Atmosphäre auf den Rängen, wenn man vergeblich auf etwas Applaus für jeden Fahrer hoffte, der sich dem Wettkampf stellte, auch für die Jüngsten in den Vorkämpfen. Oder für jene Starter aus kleineren oder aus noch nicht so bekannten Vereinen, die ebenso fantastische Leistungen abgeliefert haben und oft so wenig wertschätzenden Beifall dafür bekamen, obwohl sich der am Sonntag spontan eingesprungene Interviewer (danke dafür) redlich um Stimmung mühte. Mach deine lustig gemeinte Ansage mit dem so ernsten Hintergrund wahr, Felix, und lass das Auditorium die faire Unterstützung üben.

Die Hitze fand sich diesmal eher in den Diskussionen um einige nicht nachvollziehbare Ergebnisse und wegen der Beliebigkeit so mancher Wertung.

Für uns Garser, die wir einer der Vereine mit der weitesten Anreise waren, ging Daniela Abrantes, eine ausdrucksstarke, fokussierte Fahrerin, als erste an den Start. Wegen ihres drei Tage vor der DM gefeierten 11. Geburtstags musste sie in der U13 starten und wirkte bei der Aufreihung zur Siegerehrung etwas verloren neben den viel größeren und reiferen Starterinnen.
Warum eigentlich legt man nicht, wie bei den Gruppenküren üblich, auch bei den EK und PK den Beginn der Landesmeisterschaft als Stichtag für das Alter fest, das die Altersklasse für den laufenden Qualifikationszyklus bis zur DM determiniert? Das würde ermöglichen, sich eine komplette Saison mit den vom Alter her ungefähr passenden Fahrern zu messen.
Oder man arbeitet mit am Kalenderjahr angelehnten Altersklassen.

Gern einmal über den Tellerrand blicken und schauen, wie das andere Sportarten machen. Dort gilt das Alter beim Beginn der Qualifikationsturniers als das ausschlaggebende, z.B. im Fußball oder im Handball. Im Eiskunstlauf, dessen Wettbewerbe jeweils vom Herbst bis zum Ende des Winters stattfinden, ist immer der 1. Juli zuvor der Stichtag für die Saison und für die ein Jahr umfassenden Altersklassen – auch eine sinnstiftende Regelung.
Überhaupt würde es sich für den Freestyle lohnen, ab und zu mal beim Eiskunstlauf über den Zaun zu illern. Der steckte vor ca. 20 Jahren in einer massiven Wertungskrise. Auch sein Bewertungssystem basierte lediglich auf vergleichenden Betrachtungen ohne ein solides, nachvollzieh- und reproduzierbares Punktesystem. Fehlurteile, Frust, Ärger und sogar Skandale waren damals die Folge. Elitesportler mit Potential für Weltmeistertitel und Olympiasiege warfen hin und beendeten ihre Karrieren, weil sie sich nicht mehr mühsam im Training quälen und ihr ganzes Leben diesem Sport unterordnen wollten, um dann in den Wettkämpfen von einem dilettantischen Wertungssystem karrieretechnisch ruiniert zu werden. Mit einer kompletten Neuaufstellung des Wertungssystems hat man bei den Kufenkünstlern erfolgreich die Kurve gekriegt.

Aber um zu Daniela zurückzukehren: Man schickte also ein kleines Mädchen von der SDM zur drei Wochen später stattfindenden DM eine AK hoch und in den Vergleich mit zum Teil fast zwei Jahre älteren Sportlerinnen. In diesen jungen Jahren passiert tricktechnisch so viel in 24 Monaten, wie später kaum mehr. So bringt man ein Kind um seinen das ganze Jahr über erarbeiteten und dann auch verdienten Lohn, und im schlimmsten Fall führt man es sogar vor.

Zum Glück hat sich Daniela nicht vorführen lassen, sondern selbstbewusst und sehr ausdrucksstark ihre Kür zur Musik aus „Wish“ performt. Chapeau, Daniela, für deinen Mut und deine Kür. In der AK U11 hätte es dafür die Bronzemedaille gegeben.

Bei den Jungs der AK U11 hatte es Andreas Stettner über Bayerische und Süddeutsche bis zur Norderstedter DM geschafft. Fünf Jungs waren am dort Start, und Andreas holte mit seinem listigen „Räuber Hotzenplotz“, der der Großmutter die geliebte Kaffeemühle entwendete, den vierten Platz.

Bei der Paarkür von Daniela Abrantes und Sofia Maier dann das gleiche Spiel: zwei kleine Mädchen – Sofia ist noch mal um einiges jünger als Daniela – unter U13 Damen. Aber auch hierbei haben sich die beiden gut behauptet und in der Präsentation sogar drei ältere Paare hinter sich gelassen.
Platz zwei hätte ihr Vortrag in der U11 bedeutet.
Schade Mädels, ihr hättet diese Medaille verdient gehabt.

Im Zuge dessen kommt eine andere Frage in den Fokus: Kontrolliert eigentlich jemand das in der Anmeldung angegebene Alter der Fahrer? Bei der 2024er Muni-DM wurde das ganz selbstverständlich und routiniert beim Check – in erledigt. Es gehört zum professionellen Vorgehen bei einer so hoch angesiedelten Meisterschaft einfach dazu, noch mal mehr, wenn alle zwei Jahre sogar Startplätze für die WM vergeben werden. Auch andere Sportarten handhaben das über Ausweiskontrollen oder über das Einreichen der Sportler-bzw. Spielerpässe ziemlich strikt. Und dass das nötig ist, zeigten in der Vergangenheit mehrere Regelverstöße, vor allem in den Ballsportarten, recht eindrücklich.

Am Samstag dann Annalenas wunderbare „Scarlett Witch“ – Kür und ein Ergebnis in der U21, welches uns vom Glauben an eine noch halbwegs sinnstiftende, faire, an den sportlichen Qualitäten einer Kür orientierte Wertung abfallen ließ. Man mache sich nur mal die Mühe und stoppe die Zeit, die die auf Platz eins gesetzte Kür nicht auf dem Einrad stattfand, sondern in einer Art Tanztheater ohne das Rad aufgeführt wurde. Das macht ein Viertel der Kür aus.

Wenn man diese Tanzeinlagen in die P-Wertung einbezieht, dann befinden wir uns aber im Bereich eines Kulturwettstreits oder eines Musicalwettbewerbs, aber nicht mehr beim Bewerten sportlicher Leistungen innerhalb eines Sportwettkampfs in einer Sportart (um das Wort „Sport“ mal wieder etwas deutlicher ins Gespräch zu bringen und in den Mittelpunkt zu rücken).
Annalena bekam die Bronzemedaille umgehängt, verdient hätte sie mehr.

In der Paarkür der U21 wurde es gemeinsam mit Hannah Grätzl Platz 2.
Am Sonntag durfte das Paar dann im Finale starten und holte Platz 8.

Mit der Kür „Latin“ hatte Annalena ihren letzten Auftritt mit dem Bayernkader, der auf Platz 6 einkam.

Highlights der DM?
Die Paarkür Titanic. Diese so besondere und dem Eiskunstlaufen so ähnliche Paarkür zweier sehr leistungsstarker Fahrer ist die hohe Schule des Einradfahrens, ein Meisterstück, das auf dem Rad stattfindet, und nicht daneben, ohne Klamauk und ohne den inzwischen so üblichen Varieté-Charme vieler Vorträge.
Wie schön wäre es, würde man doch auch noch die hohe Schule des Wertens für den Freestyle entdecken.

So stellen wir uns nach dieser DM einmal mehr die Frage:

Wollen wir zukünftig Zuschauer wie im Varieté oder im Zirkus unterhalten und animieren und dabei von Event zu Event in immer stärkerem Maß zulassen, dass mehr und mehr Aktionen neben dem Rad stattfinden und diese dann ganz offenkundig in die P-Wertung einfließen?

Dann sollten wir aber Eintritt nehmen für unser Tun und gegebenenfalls sogar auf Tournee gehen mit diesem Programm.

Oder wollen wir sportlich anspruchs- und wertvolle Leistungen sehen, also Sport- und Qualifikationswettkämpfe austragen, bei denen der gewinnt, der die sportlich hochwertigste Kür zeigt?

Das ist eine Überlegung wert.

Die Vorträge werden immer karnevalesker und entfernen sich peu à peu davon, Sportwettkämpfe zu sein. Anfänglich fast unbemerkt, ist es nun in zunehmendem Maße salonfähig geworden, immer größere Teile der Perfomance mit den Füßen auf dem Boden, das Rad neben sich in der Hand führend, oder gar ganz ohne das Rad anzubieten. Und bei jeder Meisterschaft werden es ein paar mehr dieser „Küren“, die sich auf den Podestplätzen einnisten.
Unsere Meisterschaften ähneln deshalb zunehmend dem Schaulaufen nach Eiskunstlaufwettbewerben oder den Turngalas im Anschluss an Turnwettkämpfe, also den Show-Veranstaltungen zur puren Unterhaltung des Publikums.
In diesen beiden Sportarten finden aber zuvor tatsächlich hochwertige Wettkämpfe statt.

Ich hoffe, der Freestyle kriegt irgendwann die Kurve, um diese Schiene wieder zu verlassen. Und mit mir hoffen das noch andere, das ist mir bei dieser DM sehr klar geworden.

Im Zuge dessen ein Dankeschön an all die Eltern, Übungsleiter und Sportler, die mich diesmal in Norderstedt auf den Blog hin angesprochen haben und die mir/uns somit das Gefühl gaben und nun auf dem weiteren Weg geben werden, dass nicht nur wir am derzeitigen Wertungssystem, an den Vorgehensweisen im Freestyle und an so manchem Ergebnis zweifeln und verzweifeln.

Das war es nun also, unser viertes Mal Norderstedt.

Unser herzlicher Dank gilt dem emsigen Ausrichter-Team auf allen Ebenen und dem hervorragenden Catering. Dabei ist auf Norderstedt stets Verlass. (Die DM-Suppen sind legendär.)
Danke für den freundlichen Tonfall während der kompletten Veranstaltung und die angenehme Moderation. Mit dieser mutierten wir nach der kurzfristigen Umbenennung wenige Wochen zuvor zurück zum TSV Gars, und unsere Fahrer hatten ihre richtigen Vornamen wieder. Es hat uns keiner durchs Mikrofon angebrüllt und beschimpft, bis nur noch Fluchtreflexe zwischen Nebennierenmark und Sympathikus übrig waren. Danke auch dafür, denn das ist ganz offenbar keine Selbstverständlichkeit mehr.


Danke an Jan und Lena Vocke für den technischen Support!

Danke an Kim und Thomas Höser für die wunderschönen Fotos, die so zahlreich sind und so schnell zur Verfügung standen!
https://fotos.hoeser.dev/

Danke an Konstantin für die Videos, welche nur wenige Augenblicke nach dem Kürende bereits online waren, und für den Live-Stream!
https://konstantinhoehne.de/video-archiv-info/

Ihr gebt einer nicht immer mit Professionalität glänzenden Sparte des Einradsports einen sehr professionellen Rahmen, der viel Einsatz, Aufwand und vor allem Können fordert und voraussetzt.

Danke auch einmal an alle Trainer und Betreuer, die so viel leisten im Vorfeld einer Meisterschaft und während des Wettkampf, und die nur so selten Erwähnung finden in unserer Sportart.
Sie machen nicht nur das Training und die Küren, sie kümmern sich nicht nur um Musik, Choreografie und Kostüme, sie sind Motivator, Durchhalteparolenverbreiter, Pflasteraufkleber, Schuhbandbinder, Zöpfeflechter, Sozialarbeiter, Luftaufpumper, Schraubenfestzieher, Zu-spät-Kommer-Aushalter, Tränentrockner (solcher aus Frust und jener aus Freude), Friedensrichter, Blitzableiter, Harmonieverbreiter … und all das ehrenamtlich. Und nicht jeder Übungsleiter kann sich darüber freuen, dass ein wohlwollender Verein und durchgehend die Arbeit schätzende und den Mehrwert sehende Eltern hinter ihm stehen.
Also – ein Hoch auf euch alle!

Und danke an alle, die hier namentlich unerwähnt bleiben und doch so wichtig sind für das Gelingen einer solchen Veranstaltung.


Eine Antwort zu “Freestyle-DM 2024 Norderstedt”

  1. Liebe Heike,
    vielen Dank für diese Zusammenfassung der Norderstedter DM sowie der kritischen Betrachtungsweise des Freestyle Wertungssystems.

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